Yoga hat den Ruf für Inklusion und Toleranz zu stehen. In Wahrheit sind die Vorurteile hier so mächtig wie überall sonst. Ich möchte mich gegen Fettfeindlichkeit im Yoga aussprechen.
Diclaimer: In diesem Artikel geht es um Essstörung, Kalorienreduktion und Körperdysmorphie.
„Ich bin als Teenie knapp an einer Essstörung vorbei geschrammt.“ Diesen Satz habe ich mich unzählige Male sagen gehört. Aber das war gelogen.
Obwohl ich seit Jahren keine Essattacken mehr hatte und keine Kalorien mehr zähle, war das lange mein täglich Brot. Mein Verhältnis zum Essen ist heute noch immer nicht entspannt. Lange dachte ich, Yoga sei ein heilsames Umfeld für mich, weil hier Selbstliebe und Mitgefühl gross geschrieben werden.
Mit dreissig war ich noch fünfzehn bis zwanzig Kilo schwerer war als heute und fühlte ich mich in der Yogawelt wie eine Aussätzige. Ich schämte mich als Yogalehrerin, weil ich gefühlt nicht das darstellte, was wir Yogamenschen eigentlich sein sollten.
Auch in der Yogawelt wird schlank mit Eigenschaften wie gesund, diszipliniert, ja sogar mit intelligent und moralisch überlegen gleichgesetzt.
Der Grossteil der Menschen, die sich auf der Yogamatte bewegen, sind ja auch dünn, weiss, jung und fit und mobil. Alle anderen scheinen sich wenig willkommen zu fühlen, denn sie sind in Yogastudios, Retreats, Festivals oder Yoga-Lehrerausbildungen kaum vertreten.
Es macht mich (gelinde gesagt) wütend, dass Fettfeindlichkeit die Yoga- und spirituelle Szene so beherrscht. Vor allem weil der Tenor immer lautet: Alle, wirklich alle, sind willkommen.
Meine Geschichte mit Körperform und -Gewicht
Mit zehn machte ich meine erste Diät. Die anderen Mädchen im Ballett hatten auch damit angefangen. Und schliesslich sah ich meine Mutter jeden Abend nur Salat ohne Sosse mit Cottage Cheese essen. Die drauffolgenden 20 Jahre waren geprägt vom berühmten Jojo-Effekt. Ich war mal beängstigend dünn, mal passte keine Hose mehr.
Mit 30 setzte ich die Pille ab und das brachte meine Hormone wohl so durcheinander, dass ich mehrgewichtiger war als je zuvor.
Genau zu dieser Zeit machte ich Yoga zu meinem Hauptberuf, war ständig im Studio, an Lehrerausbildungen, auf Retreats, und fühlte mich ständig wie eine Hochstaplerin. Wegen meiner Körperform.
Erst nachdem ich Kinder hatte, stabilisierte sich mein Gewicht. Nein, das ist auch gelogen. Wahrscheinlich spielte meine Schilddrüse verrückt. Ich war abgemagerter denn je, so dass sich mein Umfeld Sorgen machte. Ich hingegen dachte, ich hätte den Kampf für immer gewonnen.
Aber dann kam der Tag als ich merkte, dass ich wieder ein paar (wesentliche) Kilos zugenommen hatte. Ich bekam Panik, fing an, mir selber Vorschriften zu machen: nicht zwischendurch essen, keinen raffinierten Zucker, mehr grünes Gemüse, keine Rahmsaucen, wieder verbotene Lebensmittel. Ich schaute ständig auf den Schrittzähler.
Das alles unter dem Deckmantel einer gesunden Lebensweise. Heute nennen wir das ja gerne so: Cleanse, Detox, ausgewogene Ernährung, moderate Portionen und gesunde Lebensmittel.
Aber wenn es nach Regeln, Kontrolle und Restriktion riecht, ist es im Grunde nichts anderes als eine Diät.
Nur ist das Wort jetzt böse und die Ernährungsindustrie hat sich ein paar Euphemismen einfallen lassen.
Wieso erstreckt sich meine Geschichte mit dem Schlankheitswahn über mehrere Jahrzehnte? Weil ich wie die meisten Menschen verinnerlicht habe: Nur schlank ist gut, nur so werde ich ernst genommen, beachtet, gefeiert, bin ich Teil dieser In-Group, ob das nun die Yogawelt oder die gesamte Gesellschaft ist.
Auch hatte ich die populärwissenschaftlichen Halbwahrheiten nie in Frage gestellt und glaubte tatsächlich, dass kleinere Portionen und weniger Fette und Kohlenhydrate zur Gewichtsreduktion führen. Obwohl die Wissenschaft das schon mehrfach widerlegt hat und jede Form von Restriktion langfristig bei fast allen Menschen zu Gewichtszunahme führt.
Perfektionismus und Fettfeindlichkeit, auch im Yoga
Auch in der Yogawelt hat sich ein perfektionistisches Körperideal etabliert. Beim Wort „Yoga-Body“ haben wir alle ein Bild vor Augen.
Wie viele Yogapraktizierende kennst du, die nicht schlank sind? Wie viele Yogalehrpersonen, die nicht topfit aussehen? Die Dissonanz ist für mich besonders eklatant, weil wir im Yoga viel Toleranz, Freundlichkeit und Inklusion sprechen. Diversität muss man aber mit der Lupe suchen.
Dazu kommt noch, dass die meisten Yogamenschen (allen voran ich) sich selbst mit viel Perfektionismus und Strenge begegnen.
Hinter all den löblichen Ernährungsmodellen wie einer pflanzenbasierten Ernährung, intermittierendem Fasten und ayurvedischen Reinigungkuren steckt am Ende oft einfach eine verkappte Essstörung und ein rigides Einteilen in "gute" und "böse" Lebensmittel und Verhaltensweisen.
Schön in Gelassenheit und gesunden Lebensstil verpackt, regieren auch hier Diätkultur und Healthism, also die Überzeugung, dass gesund gleich schlank ist und sogenannt gesunde Menschen mehr Disziplin haben, mehr leisten und moralisch überlegen sind. Als wären chronische und akute Krankheiten, Mehrgewicht, Neurodivergenzen oder andere Einschränkungen immer selbst verschuldet und selbst verschlimmert.
Wieso schleicht sich Diätkultur auch auf die Yogamatte?
Wir können nicht aus unserer Haut raus. Unsere Kultur ist von Fettfeindlichkeit geprägt. Dicke Menschen werden im Gesundheitssystem nicht ernst genommen, bekommen ungebetene Ratschläge zum Abnehmen (als hätten sie es nicht schon hundertmal selber versucht), erfahren Diskrimierung in der Arbeitswelt und Respektlosigkeit im Privatleben.
Im Yogaumfeld ist es nicht anders: Haben wir einen Yoga-Body schreibt man uns Kompetenz zu, wir bekommen Status und Anerkennung. Wir gelten als eine Person, welche die Lehren des Yoga verstanden hat und lebt. Als eine Person, die mal diese Form hatte und mal nicht, kann ich das bezeugen.
Kein Wunder also, haben wir Angst vor Gewichtszunahme. Unser Schlanksein steht in direkter Verbindung mit unserem Selbstwertgefühl und unseren Chancen da draussen.
Woher kommt dieser Schlankheitswahn und das Ideal des elfenhaften oder durchtrainierten Körpers? Wieso stehen vor allem weiblich gelesene Menschen im Zentrum der Diskussionen um Schlanksein und den perfekten Körper, obwohl Männer mittlerweile wohl genauso betroffen sind?
Hier meine Lieblingstheorien von da und dort (Liste von Podcasts und Quellen am Ende dieses Blogs).
- Wir gehen zwar nicht mehr in die Kirche, aber die christliche Religion prägt trotzdem unser Denken und unsere Kultur. Fasten und Verzichten war schon immer positiv besetzt und etwas für höhere Sphären und erleuchtete Geister.
Auch im Yoga finden wir eine ähnliche Sprache: Wir verzichten auf Fleisch und psychoaktive Substanzen, dadurch soll der Körper reiner und der Geist klarer werden. Das Gegenteil ist dreckig, fast schon animalisch und weniger wert. - Die Soziologin Sabrina Strings zeigt in ihrem Buch Fearing the Black Body: The Racial Origins of Fat Phobia wie Fettfeindlichkeit ihre Wurzeln in der Geschichte der Rassendiskriminierung hat. Um ihre weisse Überlegenheit zu markieren, kreierten die kolonisierenden Europäer:innen Gesundheits- und Schönheitsstandards, die People of Color herabsetzten und das typisch weisse Aussehen als erstrebenswert und erhaben darstellen. Mit anderen Worten: Fettleibigkeit wurde durch die Gesellschaft, nicht durch medizinische Funde, zum Zeichen von Wildheit und Ignoranz erklärt.
- Es gibt eine ganze Maschinerie, die von der Fettfeindlichkeit und Diätkultur profitiert. Obwohl in den letzten 60 Jahren mehrfach widerlegt wurde, dass beispielsweise Kalorienreduktion, Verzicht auf Fette oder Kohlenhydrate langfristig nur zu einer Gewichtszunahme führen, machte die Gewichtsreduktionsbranche in den USA im Jahr 2021 einen Umsatz von 72.6 Milliarden US-Dollar.
Eine ganze Industrie hat null Interesse daran, dass wir uns selber so mögen, wie wir sind. Wer kauft dann noch Fitnessabos und Proteinshakes? Wer braucht dann noch Magenbänder und eine Ozempic-Spritze? Wer will dann noch was von Paleo, einer proteingeladenen Ernährung nach dem Steinzeit-Modell, hören? - Wie sähe eine Welt aus, in der insbesondere Frauen/FLINTA (Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nonbinäre, trans und agender Personen) nicht hungern und dadurch nicht ständig ein Gefühl von Schwäche mit sich rumtragen würden? Wie viel Zeit und Energie hätten wir, wenn wir nicht so oft ins Fitnessstudio rennen würden und uns weniger Gedanken über sogenannte gesunde Ernährung machen müssten?
Könnte es sein, dass es auch im Interesse eines Systems liegt, dass Frauen/FLINTE klein und schmal bleiben?
Bietet Yoga auch Antworten?
Ich bin zumindest aktuell nicht direkt betroffen. Ich gelte als schlank. Man könnte fragen, wieso ich überhaupt laut werde?
Wie so oft in der Geschichte können diskriminierte und unterdrückte Menschen sich schlecht allein befreien. Denn sie geniessen eben weniger Privilegien und Vorrechte in unserer Gesellschaft.
Deshalb möchte ich für sie sprechen, wenn ihnen vor Scham die Stimme im Hals stecken bleibt.
Ich kenne die Yogawelt seit zwanzig Jahren sehr gut. Aufgrund der Angebote und der Sprache im Yoga-Umfeld, habe ich den Eindruck, dass die blinden Flecken sich ausgebreitet haben und dass die Diätkultur hier wie auch anderswo wenig hinterfragt ist. Ich möchte diese Ecken ausleuchten.
Ein Schlüsselaspekt der Yoga-Praxis ist das Beobachten unserer Wahrnehmung und unserer reflexartigen Bewertungen.
Ich wünsche mir, dass wir diese Fähigkeit nutzen, um uns unserer Vorurteile bewusst zu werden. Wenn wir sie auf dem Radar haben, dann bietet sich uns auch die Option, unsere Gedanken, Worte und Taten zu wählen und zu verändern.
Quellen
Yoga and Body Image, eine Essaysammlung von Melanie Klein und Anna Guest-Jelley
Yoga and Body Image Coalition - die Koalition setzt sich für eine Yogakultur ein, die für alle zugänglich ist und Diversität reflektiert und respektiert
You Just Need to Lose Weight and Nineteen other Myths about Fat People, Aubrey Gordon - eine Demontage unserer Vorurteile gegen fetten Menschen
Maintenance Phase, Podcast von Aubrey Gordon und Michael Hobbes. Sie entlarven darin Trends der Wellness-Industrie mit beissendem Humor und wissenschaftlichen Daten.
Fearing the Black Body - the Racial Origins of Fat Phobia, Sabrina Strings, Soziologin, erforscht den Ursprung der Fettfeindlichkeit über die Geschichte der Rassendiskriminierung.
Der Originalartikel lautete "Essstörungen im Yoga" und wurde am 28. Dezember 2024 in seiner überarbeiteten Version "Diätkultur im Yoga" publiziert.
Beautifully written love.
I think the kriyas were designed to help the energy flow freely, “purification” is a mistranslation that unfortunately has become a part of the yoga lexicon. Hatha yoga is goal orientated if the goal can be reached without the kriyas then they are not needed. Not all yoga is necessarily values abstinence, many aspects of Tantra embrace fullness of life as a way of experiencing the fullness of the universe. It is the shift of yoga into western culture that has led to many of the assumptions around restriction and restraint. The vast majority of teachings are not aimed to be confining but rather offer alternatives which perhaps had not been considered previously. We try the alternative if it helps us move towards happiness and evolution we adopt it as a way of life, if it doesn’t we let it go.
You ask how many yoga teachers do we know who are not slim and good looking. Me. I’m not slim, I am plump and round. I have gained a lot of weight through the stress of the past year. I try with all my might to accept the curves and that it in no way impacts my capacity as a teacher or a practitioner. But I see how others look at me. In a culture where everything has become a product everything is judged by aspiration. Yoga has for too long been perceived as an external practice. In my opinion we aspire to be happy and have yet a lot of work as a society to realise that happiness is not something we buy or earn (something external) rather something we develop internally with practice and love.
love you Elisa, thank you for writing.
c.x
Thank you, my dear. Yes, indeed. It’s mostly the yoga that we practice here in the West that has become goal-oriented. Also, we have tweaked it to fit our high-achiever mentality and maybe also our subconscious Christian heritage.
I am extremely glad that you set a very different body-type example to all the yoginis (and yogis) out there. Because as you say, your body doesn’t affect your capacity as a teacher or skilled practitioner at all. Personally, I think that what you are modeling is of unique value and importance. Then again, I can totally relate to the not-feeling-good-in-your-body part. It comes in waves. In my experience, when we’re able to be honest about it, the discomfort lifts a bit… Hence, the blogpost.
Love you, too. Have courage. E.x
Wini dini offeni, reflektierti und ehrlich Art Liebä! Ou oder viellecht genau wiu du über di schattä springsch zum es settigs Thema is Bewusstsi z‘rüefä.
Mersi drfür ❤️
Awww danke du Liebi! I finde mir chöi nid gnue drüber rede und üs unger Schwöstere verbinde… schliesslech gits chuum ä Frou wo kes Thema het mit ihrem Körper. Merci für die Blumen. <3