Oder wie unsere Körperwahrnehmung manipuliert wurde

„Ich bin als Teenie knapp an einer Essstörung vorbei geschrammt.“ Diesen Satz habe ich mich unzählige Male sagen gehört. Aber es war gelogen.

Die Orthorexie1 kam durch's Hintertürchen zurück

Nachdem ich Kinder bekommen hatte, nahm ich stetig ab. Mein Umfeld machte sich Sorgen. Ich tat so, als wäre ich auch perplex. Innerlich aber platzte ich vor Stolz. Alle Jeans hingen lose an mir runter. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich nicht auf gesunde Ernährung und bescheidene Mengen achten. Das lang ersehnte Federgewicht hielt sich von selbst.

Seit meiner Jugend hatte ich immer mit ein paar Kilos zu viel gekämpft. Nein, Korrektur: Ich bildete mir immer ein, sie wären zu viel. Als die Schwangerschaftskilos purzelten, fragte ich mich, ob ich für immer geheilt sei. War ich mit zwei kleinen Kindern einfach mehr in Bewegung? Hatte die hormonelle Umstellung meinen Stoffwechsel verändert? Hatte ich weniger Zeit, um aufs Essen fixiert zu sein?

Aber dann kam der Tag als ich merkte, dass wieder ein paar (gesunde) Kilos dazu gekommen waren. Die Hose sass nicht mehr so locker. Ich wurde vierzig, die Spannkraft im Bindegewebe nahm ab. Ich hatte – wie immer wenn ich nicht untergewichtig bin – wieder Lust auf Sex. Aber innerlich hatte ich Panik .

Ich fing wieder an, mir selber Vorschriften zu machen: nicht zwischendurch essen, keinen raffinierten Zucker, mehr grünes Gemüse, keine Rahmsaucen, wieder verbotene Lebensmittel. Ich fing wieder an zu joggen. Ich schaute mehrmals am Tag auf den Schrittzähler.

Ich kontrollierte wieder mein Essverhalten und sah doch nicht richtig hin. Die Orthorexie schlich sich durch's Hintertürchen wieder rein.

1 Orthorektische Menschen essen zwanghaft nur gesunde, „cleane“ Lebensmittel. Was sie als gesund bezeichnen, definieren sie selbst. Oft ist Orthorexie auch eine Vorstufe zu anderen Essstörungen, wie Bulimie oder Anorexie. Leider wird in unserer Kultur, gesunde und bewusste Ernährung immer noch verherrlicht. Das Krankheitsbild von Orthorexie wird deshalb spät bis kaum erkannt.

Perfektionismus, auch im Yoga

Auch in der Yogawelt hat sich ein perfektionistisches Körperideal etabliert. Beim Wort „Yoga-Body“ haben wir alle ein Bild vor Augen. Schlank, beweglich, muskulös. Wahrscheinlich weiblich und enthaart, attraktiv und wahrscheinlich auch weiss.

Wie viele Yogalehrer:innen kennst du, die nicht schlank und gut aussehend sind? Die Dissonanz ist besonders eklatant, weil wir im Yoga viel von Mitgefühl, Toleranz, Freundlichkeit und Inklusion sprechen. Uns selbst begegnen wir aber mit viel Perfektionismus, Strenge und dem Gefühl, nie gut genug zu sein. In Gelassenheit gekleidet, regiert auch hier der Leistungsdruck. Genauso wie überall auf der Welt auch.

Wieso schleicht sich unser Schönheitsbild auch auf die Yogamatte?

Wir können nicht aus unserer Haut raus. Unsere Kultur ist von Fatphobia (panische Angst vor Übergewicht) geprägt. Schlankheit steht nicht nur für Schönheit. Einer übergewichtigen Person sprechen wir sofort Qualitäten wie Selbstdisziplin, Zuverlässigkeit, sogar Intelligenz ab. Kein Wunder haben wir Angst vor der Gewichtszunahme. Sie steht in direkter Verbindung mit unserem Selbstwertgefühl.

Woher kommt dieser Schlankheitswahn und das Ideal des elfenhaften oder durchtrainierten Körpers, vor allem bei Frauen und immer mehr auch bei Männern?

Hier meine Lieblingstheorien, die ich hier und da aufgeschnappt habe (Liste von Podcasts und Quellen am Ende dieses Blogs).

  1. Wir gehen zwar nicht mehr in die Kirche, aber die christliche Religion prägt trotzdem unser Denken. Es ist nicht allzu lange her, dass Menschen gefastet, um sich näher bei Gott zu fühlen. Yoga hat diese Lücke gefüllt. Ständig poppen Angebote wie Frühlingsdetox und Yoga&Fasten auf. Der ideale Yoga-Lebensstil ist von Verzicht geprägt: Verzicht auf Fleisch oder tierische Lebensmittel, Verzicht auf ungesunde Lebensmittel und Alkohol. Das ursprüngliche Hatha Yoga und dessen Reinigungstechniken sollen die körperliche Hülle reiner und durchlässiger zu machen. Dies impliziert: So (dreckig) wie wir sind, sind wir nicht gut genug.
  2. Es gibt eine ganze Maschinerie, die von der Fettphobie profitiert. Im Jahr 2021 betrug der Wert der Gewichtsreduktionsbranche in den USA 72.6 Milliarden US-Dollar. Eine ganze Industrie hat null Interesse daran, dass wir uns selber so mögen, wie wir sind. Wer kauft dann noch Fitnessabos und Proteinshakes? Wer braucht dann noch Magenbänder und Liposuction (Fettabsaugen)? Wer will dann noch was von Paleo und Biohacking hören?2

    Ein Trend löst den anderen ab. Wir wissen aber immer genau, welche Form für Hintern und Augenbrauen gerade in ist. Wir investieren in unsere Selbstoptimierung. Das System, auch bekannt als Kapitalismus, hat kein Interesse daran hat, dass wir die ständig wechselnden Schönheitsdiktate durchschauen.
  3. Wie sähe eine Welt aus, in der Frauen nicht hungern? Was würden wir mit all der Zeit anstellen, die wir in die Pflege unseres Erscheinungsbildes stecken?
    Könnte es sein, dass es im Interesse einer Gruppe liegt, dass Frauen klein und schmal bleiben? Was würde mit dem Patriarchat passieren, wenn wir plötzlich mehr Gewicht in dieser Welt hätten?

2 Die Paleo-Ernährung plädiert dafür, dass sich seit der Steinzeit wenig an unserem Stoffwechsel verändert hat und wir deshalb nur die damals verfügbaren Lebensmittel zu uns nehmen sollten: Fleisch, Fisch, Meeresfrüchte, Gemüse, Obst und Nüsse. Auf andere Lebensmittel wie Getreide, Hülsenfrüchte, Zucker oder Milch und Milchprodukte wird dagegen komplett verzichtet.
Beim Biohacking geht es darum, die eigene Biologie möglichst genau zu verstehen und diese Daten für Selbstoptimierung einzusetzen. Intervallfasten ist ein gutes Beispiel dafür.

Ein ehrlicher Blick in den Spiegel

Nein, diese Einsichten lösen mein Problem nicht. Ich werde nicht über Nacht body-positive. Im Gegenteil: Die Erwartung, meinen Körper plötzlich so zu lieben, wie ich ihn wahrnehme, baut nur noch zusätzlichen Druck auf. Ich kann die jahrzehntelange Konditionierung nicht wie durch Magie ausschalten.

Aber die oben genannten Gedankengänge machen mir bewusst, dass das, was ich im Spiegel sehe, nicht der Realität entspricht. Meine Wahrnehmung wurde manipuliert.

Ein realistischeres Ziel ist für mich die Körperneutralität. Wie der Name schon sagt, versuchen wir bei diesem Ansatz unseren Körper weder hochzujubeln noch zu hassen. Wir versuchen, den Fokus darauf zu legen, was unser Körper alles für uns vollbringt, ohne dass wir ihn ständig optimieren.

Anstatt weiterhin so zu tun, als wäre ich fast versehentlich schlank, möchte ich ehrlich sein: Ja, ich habe eine Essstörung. Diese Diagnose trifft nämlich nicht nur auf Menschen zu, die im Spital künstlich ernährt werden müssen. Genauso wenig wie Alkoholiker:innen nicht nur die Menschen sind, die bereits morgens anfangen zu trinken.

Genau wie bei Sucht3 ist es hilfreich, wachsam zu bleiben und die Zeichen rasch zu erkennen, wenn ein Rückfall droht. Anders als bei Sucht ist komplette Abstinenz nicht möglich: Wir müssen essen.

Auch nach drei Jahrzehnten Bewusstseinsarbeit schaffe ich es meist nicht, meine Figur okay zu finden. Wahrscheinlich werde ich nie im Restaurant aus dem Bauch heraus einen Burger bestellen. Es wird mir nie egal sein, wenn ich eine Kleidergrösse nach oben rutsche. Aber ich gebe den Dämonen einen Namen und knipse das Licht an. So schwindet ihre Macht über mich.

3 Genau genommen sind gehen Essstörungen unter Zwangsverhalten, nicht unter Sucht.

Quellen

Yoga and Body Image, eine Essaysammlung von Melanie Klein und Anna Guest-Jelley

Yoga and Body Image Coalition - die Koalition setzt sich für eine Yogakultur ein, die für alle zugänglich ist und Diversität reflektiert und respektiert

Sober Curious Podcast "Eating Disorders and us", ein Gespräch zwischen Ruby Warrington und Jayne Mattingly, Recovery Coach für Essstörungen

Podcast Beziehungskosmos "Körpernormen", ein Gespräch zwischen Felicitas Ambauen und Sabine Meyer