Öffnen wie die Lotusblüte

Schwangerschaftswoche 34, ein Gespräch mit meiner Hebamme. Eine alte Sorge von mir, dass meine Beckenboden-Muskulatur vom vielen Yoga zu straff sein könnte. Immer wieder hört frau, eine Geburt bedeutet Loslassen, Weichwerden auf allen Ebenen, sich Öffnen wie eine Lotusblüte.

Bei dieser Rhetorik bin ich dann etwas hin- und hergerissen. Ich gebe gerne zu, dass es mir nicht immer leicht fällt, den Schutzschild abzulegen und weich zu werden. Das überrascht nicht. Der Druck weiterhin zu funktionieren, kommt wohl bei uns allen von Aussen wie auch von Innen. Kann es sein, dass deshalb in den meisten Schwangerschaftsyoga-Klassen das Loslassen und Weichspülen im Vordergrund steht?

Yoga als optimale Vorbereitung

Eine Geburt ist kein Spaziergang, sie braucht auch Kraft. Einerseits um das Baby durch den Geburtskanal herauszupressen, andererseits psychisches Durchhaltevermögen, um trotz Schmerz, Erschöpfung und möglicherweise Angst nicht aufzugeben.

Es tut gut zu hören, dass auch meine erfahrene Hebamme genau diese Argumentationslinie bestätigt. Wir brauchen beides, um ein Kind sogenannt natürlich auf die Welt zu bringen: Druck und Weite, Kraft und Nachgeben, Wille und Loslassen. Ich wage zu behaupten, dass diese Eigenschaften auch bei einer Geburt durch Kaiserschnitt nicht schaden. Vielleicht sind sie auf psychologischer Ebene hier sogar noch wichtiger.

Im Grunde ist eine Geburt die Kulmination dessen, was wir im Yoga immer wieder üben und anstreben: Anstrengung und Loslassen, Anspannung und Entspannung, Einatmen und Ausatmen, Absicht und Hingabe – sowohl körperlich wie auch feinstofflich. In Yoga-Jargon: “Effort and Surrender.” Es gibt viele Gründe (Atmung, Visualisierung, Rückenkräftigung, Hüftöffnung, Beckenbodendehnung und -kräftigung etc.), weshalb Yoga eine gute Schwangerschaftsbegleitung ist. Die beste Vorbereitung auf das Geburtserlebnis sehe ich in diesem Wechselspiel von Anstrengung und trotzdem Weichbleiben, das Yoga so einzigartig beinhaltet.

Effort and Surrender

In jeder Yogastellung gibt es ein physisches Prinzip: Ein Muskel muss kontrahieren, damit sein Gegenüber, der sogenannte Gegenspieler, nachgeben und sich längen kann. Eine Körperseite ist gespannt, damit die andere sich öffnen kann. Das funktioniert auch im übertragenen Sinn. Wir brauchen beides, um gesund und ausgeglichen durch's Leben zu gehen: Wir brauchen Ziele, Ideale, eine Ausrichtung, aber auch Bereitschaft und Flexibilität, wenn es dann anders kommt.

Oft erlebe ich aber, dass bei Yoga rund um die Geburt (vorher und nachher) der Kraftaspekt zu kurz kommt. Nur nicht zu anstrengend, nur nicht die Gelenke zu sehr belasten, nur nicht zu sehr ins Atmen kommen. Vor Kurzem stiess ich auf diesen Artikel, der die Methode von Birthlight (UK) vorstellt und anpreist. Ich habe selber eine Rückbildungsyoga-Ausbildung bei Birthlight absolviert. Inspirationen und Wissen der Leiterinnen haben mir viel gebracht, aber die Übungsmethoden sind so sanft, dass ich persönlich kaum eine Wirkung verspüre.

Der Artikel empiehlt für die einzelnen Schwangerschafts-Trimester bestimmte Übungen. Diese mögen dem Aspekt des Weichwerdens und Loslassens Rechnung tragen. Aber selbst das Programm für's zweite Trimester – das Drittel, in dem frau meist viel Energie und Bewegungsdrang verspürt – empfinde ich (mittlerweile in der 40. Schwangerschaftswoche) als relativ anspruchslos und wenig fliessend (obwohl in der Anleitung von Flow die Rede ist). Stattdessen warnt die Autorin vor zuviel Bewegung und Anstrengung (natürlich auch zu Recht) und erzählt die übliche Angstmacher-Geschichte der Rektus Diastase.

Kräftigen und Öffnen

In der Schwangerschaft nehmen wir an Gewicht zu. Ich finde es wichtig, Bein-, Rücken- und Beckenboden-Muskulatur auf diesen ständig zu tragenden Berg-Rucksack vorzubereiten. Mit anderen Worten, wir sollten nicht aufhören, Kraft zu trainieren – ganz im Gegenteil.

Das Gewicht von Brust und Bauch zieht Schwerkraft-bedingt nach vorne. Der obere Rücken wir dadurch eher rund, komprimiert Lunge und Herzbereich. Deshalb fühlen sich sogenannte Herzöffner (Zurückrollen der Schultern, Zurücklehnen des Oberkörpers) wie zum Beispiel in einer milden Kamelhaltung für einen grossen Teil der Schwangeren sehr erlösend an. Auch hier ist Birthlight panisch und warnt vor zu langem Dehnen und Überstrecken der ohnehin schon gedehnten Bauchmuskulatur.

Wegen des Weichmacher-Hormons Relaxin sollten wir uns auch nicht zu fliessend bewegen, dabei sind kleine repetitive Bewegungen eine wohltuende Massage für verspannte Schulter- und Rückenmuskeln. Birthlight warnt auch davor, zuviel auf Handgelenke und Schultern geben. Der herabschauende Hund ist tabu, dabei finde ich (ausser bei Reflux) diese Übung wundervoll, um die ganze Hinterseite des Körpers mal lang zu strecken, vor allem, wenn gegen Ende der Schwangerschaft der Bauch andere Vorwärtsbeugen unmöglich macht.

Kraft tanken rundum die Geburt

Die Weiterbildung bei Birthlight hat mich erst sehr verunsichert. Hatte ich die schwangeren Frauen, die zu mir kamen, überfordert? Aber ich war meinem Instinkt gefolgt und hatte nur das weitergegeben, was während meiner eigenen Schwangerschaft so wertvoll gewesen war: den gesunden Ausgleich zwischen ein bisschen Anstrengung und Entspannung.

Natürlich kann man zu weit gehen. Ich beobachte aber, dass die meisten Frauen gerade in der Schwangerschaft ein gutes Körperbewusstsein haben. Sie überfordern sich nicht, sondern hören auf die Signale, die sie vielleicht in einer anderen Lebensphase ignoriert hätten. Der Instinkt, das Kind zu schützen, beginnt praktisch mit dem Einnisten der Eizelle.

Gerade in Phasen grosser Müdigkeit ist ein bisschen Überwindung zur Anstrengung oft erquickend. Man fühlt sich nach der Yogapraxis, die mehr Anstrengung in Beinen und Armen fordert als sonst, weniger schläfrig und dumpf. Den meisten Menschen fällt es auch leichter loszulassen, wenn sie ihren Körper erstmal richtig wahr genommen haben. Dieses Gewahrwerden geht über eine leichte, risikofreie Grenzerfahrung wie von selbst. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich damit so falsch liegen konnte.

Der Austausch mit Hebammen und befreundeten Schwangerschaftsyogalehrerinnen war für mich die weitaus bedeutendere – und immer weiter führendere – Ausbildung.

Dankbar war ich auch als ich auf diesen Artikel von Melanie Müller stiess: “Jetzt (in der Schwangerschaft) gilt es, sich für die Zeit vor der Geburt und für die Geburt stark zu machen. Gemeint ist damit aber nicht unbedingt physische Kraft, sondern vielmehr eine innere Stärke, die es ermöglicht, auch inmitten intensiver Anstrengung möglichst gelassen zu bleiben. Die Praxis soll dabei unterstützen, Vertrauen und Hingabe zu kultivieren.”

Der Atem als Zugang

Und genau das kann Yoga wie keine andere Disziplin. In einer Armbalance sein (ok, vielleicht nicht während der Schwangerschaft) und trotz Kontrolle und Kraftaufwand immer noch regelmässig atmen und innerlich gelassen bleiben. Das ist genau das, was jede Wehe erleichtert. Pressen ja, aber gleichzeitig im Schulter- und Kopfbereich weich bleiben. So zumindest leitete mich vor dreieinhalb Jahren meine Hebamme an.

Der Artikel gibt wertvolle und anatomisch fundierte Inputs. Patricia Thielemann, Gründerin von Spirityoga Berlin und selber Mutter, weist darin ganz undogmatisch auf einzelne Übungen hin, die vielleicht besser zu vermeiden sind. Und auch die Autorin kommt auf den wesentlichen Punkt zurück: “Eine weitere Erfahrung, die wir im Yoga machen können, ist für werdende Mamis besonders wertvoll: Zu lernen, unter Anspannung loszulassen. Der Atem ist dazu das ideale Werkzeug.” Denn solange wir atmen, können wir uns nicht verspannen. Solange wir ausatmen, ist auch loslassen möglich.

Um bei Kräften zu bleiben, müssen wir nicht bis Schwangerschaftswoche 40 unsere klassischen Sonnengrüsse abspulen. Es reicht ein intelligentes achtsames Üben, das uns aus der Reserve lockt. Ein paar Stuhlstellungen und Ausfallschritte, die das Feuer in den Beinen entfachen. Ein paar Herz- und Flankenöffner, die uns in unserem Körper wieder zu Platz verhelfen.

Üben für den Ernstfall Geburt

Für mich bleibt es deshalb ein Rätsel, wieso Schwangerschaftsyoga oft im Streichelzoo-Modus unterrichtet wird. Immer mehr Frauen haben bereits Yoga-Erfahrung, wenn sie im Schwangerschaftsyoga landen. Die Ausgangslage ist dann natürlich eine andere. Diese Frauen sind mit der Mischung aus Anstrengung und Entspannung vertraut und dankbar, in vernünftigem Ausmass weiterhin gefordert zu werden.

Dazu kommt, dass die Durchschnittsfrau in der Schweiz ist kein Couch Potato ist. Viele fahren mit dem Velo zur Arbeit. Wir lassen es uns nicht nehmen, im Sommer mal Schwimmen oder Wandern zu gehen. Wir haben irgendein Hobby, das uns in Schwung hält und einen Ausgleich zum Arbeitsalltag schafft. Das gehört, wie Skifahren, schon fast zur Volkskultur.

Wegen einer Schwangerschaft alles zurückzufahren, ist den meisten deshalb fremd. Sie wollen sich bis zum Schluss bewegen. Ich finde es weiser, gute Optionen anzubieten als diese gesunde Lebensgewohnheit auszubremsen. Ausserdem ist es eine der positivsten Erfahrungen überhaupt, wie dieser Wunder-Körper trotz allen Veränderungen in der Schwangerschaft noch beweglich und kraftvoll bleibt.

Wenn sich dieser Körper über neun Monate im Anspannen und Loslassen üben darf, wird er sich im Ernstfall Geburt an diesen Übungsdrill erinnern. Er wird auch unter intensiven Schmerzen und während diesem Grenzerlebnis die Kraft und den Mut finden loszulassen.