Wie ein Jahr Konsumverzicht an meiner Identität rüttelte

Kleider machen Leute

Meine Mutter ist nicht die typische Gucci-Prada-Italienerin. Trotzdem beurteilt meine Familie Menschen anhand ihrer Kleidung. Bei den jährlichen Besuchen in Süditalien war ich immer sportlicher und schweizerischer gekleidet als die Mädchen in der Heimat meiner Mutter. 

Meine Tante und andere Verwandte beschenkten mich oft mit Kleidern und Schmuck. Später nahmen mich meine Freundinnen vor Ort mit auf Shoppingtouren. Es war der Versuch, mich zu einer von ihnen zu machen. Die war ich aber nun mal nicht. Ich war weniger weiblich, weniger selbstbewusst, weniger laut, weniger sexy. 

Habe ich deshalb einen Grossteil meines Lebens damit verbracht, mehrmals im Monat Stücke nach dem neuesten Trend zu beschaffen? Mode war immer ein Teil meiner Identität. Am Gymnasium war ich bekannt als die mit den hohen Hacken und der Parfümwolke. Ich hatte immer volle Kleiderschränke und Schuhe nach dem letzten Schrei.

Aber ich hatte auch Stress. Egal ob ich die Kultur, das Umfeld oder die Schule wechselte, ich wollte gefallen und mich wie ein Chamäleon anpassen. 

Photo credit: Priscilla du Preez

"Ich wollte gefallen und mich wie ein Chamäleon anpassen."

Ein Jahr Konsumdetox

Inspiriert durch die Idee vom Weltwandelabkommen – ein persönllicher Verzicht als Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit – nahm ich mir vor, 2021 das ganze Jahr lang keine neuen Modeartikel anzuschaffen. Ich wollte nichts Unnötiges kaufen. Also auch erst wieder Lippenstift, wenn ein alter aufgebraucht war.

Ich erzählte möglichst vielen Leuten von meinem Vorsatz und tat meine Absicht auf Social Media kund. Dank dieser Verbindlichkeitsstrategie hielt ich mich diszipliniert daran. Ich hatte mich entschieden, und das erstickte die Kauflust oft im Keim.

Als ich vor den Schaufenstern stand, ertappte ich mich trotzdem beim Erstellen von Einkaufslisten: Solche Stiefel hatte ich noch nicht. Weiter geschnittene Jeans nach dem neuesten Trend wollte ich anschaffen. 

Aber weil ich schliesslich nichts shoppte, hatte ich genug Distanz, um zu sehen: Es ging gar nicht um den Cardigan mit Leopardenprint. 


Wie Fasten

Wenn man schon nur ein paar Tage fastet, dann bleibt der Reflex, ein paar Kekse zu verdrücken einfach in der Luft hängen. Wenn wir nicht gleich zur Tat überschreiten, können wir die Motivation zum Essen genauer unter die Lupe nehmen. 

Oft entdecken wir, dass wir gar nicht aus Hunger und Notwendigkeit essen, sondern aus Langeweile, Frust oder einfach um uns zu belohnen, weil wir grad einen strengen Tag, Streit mit unserem Partner oder wenig geschlafen haben. 

"So oft konsumiere wir - egal was - im ein Gefühl von Unzulänglichkeit oder Unzugehörigkeit zu überdecken. "

So oft konsumieren wir – egal was – um ein Gefühl von Unzulänglichkeit oder Unzugehörigkeit zu überdecken. Wir erleben einen kurzen Glücksmoment – auch bekannt als Dopamin-Kick – und das Problem scheint zumindest vorübergehend aus der Welt. 

Blinde Flecken

Erst nach einigen Monaten der Enthaltung las ich diesen Artikel über die Folgen von Fast-Fashion. Die Kleiderindustrie (10% der klimaschädlichen Emissionen weltweit) schadet der Umwelt mehr als die kommerzielle Luftfahrt (nur 2-3% der Emissionen).

Frauen in den USA werfen 60% ihrer Kleider weg, ohne sie je getragen zu haben. Es lief mir kalt den Rücken runter. Ich besitze viele Kleidungsstücke, die ich einmal angeschafft habe, um an einer Silvesterparty, auf einer Alpwanderung oder auf einem Yoga-Festival gut auszusehen. 

Ich hatte unbewusst jahrezehntelang an diesem Rad von Überproduktion mit gedreht. 

Mode war für mich ein blinder Fleck. Ich kaufe saisonale und regionale Lebensmittel ein und vermeide Flugreisen. Aber für Shirts aus dem H&M hatte ich immer Ausreden gefunden. Oder vielmehr, ich hatte es einfach vermieden darüber nachzudenken. Es hätte zu sehr an meiner Identität der modischen Seconda gekratzt.

Aus zweiter Hand

Paradoxerweise fielen mir durchs Nicht-Kaufen die rauhen Mengen in den Kleiderschränken grotesker auf. Ich fing an auszusortieren und zu entsorgen. Mindestens einmal im Monat brachte ich zusammen mit meinen Kindern Sachen in die Brocki oder in den Second-Hand-Laden.

Es gab mir ein gutes Gefühl, den Kindern etwas anderes vorzuleben als ich es in jungen Jahren mitbekommen hatte. In der Berner Brocki gab es auch Perlen zum Fischen: Schlittschuhe für meine Tochter und mich, Weingläser, nachdem so viele in Scherben geendet hatten, ein rosa Mantel aus künstlichem Pelz, dem ich dann doch nicht widerstehen konnte. 

Die Freude beim Fündigwerden ist übrigens evolutionär sinnvoll angelegt. Sonst hätten unsere Vorfahren nie genug Motivation gefunden, um den Wald nach Beeren abzusuchen oder ein Tier zu jagen und zu erlegen. Ohne diesen Kick wären wir kaum motiviert, Luft zu holen, Nahrung zu beschaffen oder schlicht zu überleben.

Ich gebe zu, das waren Substitutionshandlungen, die ich ökologisch maskiert hatte. Aber immerhin bestand das Hochgefühl nun auch aus dem guten Gewissen, dass ich nicht noch stärker am Konsumrad drehe.

It's all in the mind

Wir schreiben nun Februar 2022. Ich habe mich entschieden, weiterhin auf Neukäufe zu verzichten. Mit der Änderung, dass ich mir ab und zu Fair-Fashion-Ausnahmen und Second-Hand-Käufe gönnen werde. 

Es ging mir nie um die totale Askese. Aber der Entzug hat Wirkung gezeigt. Meine Konsumhandlungen und Gewohnheiten haben sich authentisch verändert. 

"Ich investierte weniger ins Erfüllen der Erwartungen anderer, dafür mehr in meine Selbstfürsorge und mit weniger schlechtem Gewissen."

Ich habe letztes Jahr nicht nur weniger gekauft, sondern wenn, dann auch ganz anders Geld ausgegeben. Ich kaufte endlich sinnvollere Körper- und Gesichtspflege und nicht mehr diese Billo-Kosmetiklinien. Ich leistete mir zwischendurch Behandlungen bei der TCM-Ärztin, bei der Shiatsu- oder Akurpressur-Therapeutin. Ich investierte weniger ins Erfüllen der Erwartungen anderer, dafür mehr in meine Selbstfürsorge und mit weniger schlechtem Gewissen. 

Ich habe weniger Stress. Wenn ich nicht ständig von einem bodenlagen Daunenmantel träume, habe ich mehr Platz für anderes in meinem Dickschädel. 

Es gibt immer noch Situationen, vor allem in Italien, wo ich mich wie ein Kartoffelsack unter stolzen Pfauen fühle. Ich versuche dann, meine innere Sofia Loren so zu channeln: “Ja, meine Lackleder-Doc Martens erleben schon den fünften Winter. Wer sagt denn, dass Second-Hand nicht auch sexy ist?” Hüftschwung bitte hier einfügen.