Im Grunde bin ich eine jener Personen, die Yin Yoga mit Vorsicht geniessen sollten. Wegen meiner hypermobilen Gelenke muss ich sehr viel mehr aktiven Muskelaufbau machen als passives Dehnen. 

Trotzdem hat gerade Yin Yoga es mir angetan. Ich könnte mir mein Leben nicht ohne diese Ergänzung vorstellen. Hier sind drei Gründe und meine Liebeserklärung an Yin Yoga:

1. Entschleunigung

Die meisten von uns werden schon ungeduldig, wenn die Seite im Browser nicht schnell genug lädt oder die Person vor uns an der Theke nicht schnell genug bedient wird. Ich gehöre auch zu denen. Für langsame genussvolle Handlungen bin ich nicht bekannt. Ich bin eher der Typ effizient und pragmatisch. Wenn man lange basteln und chnüblen muss, verliere ich die Nerven. 

Demnach sollte ich auch Yin Yoga unerträglich finden. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Vielleicht weil wir – anders als in der Sitzmeditation – beim Körper anfangen. Wir klappen ihn in eine sitzende oder liegende Haltung und verweilen für drei bis fünf Minuten. Das gibt uns Zeit, genau zu registrieren, was wir wahrnehmen. Es gibt nichts, was man vorspulen oder schneller erledigen kann. Aber wir driften gedanklich auch nicht ab, weil die Stellung meist genug intensiv ist für unseren Körper. Sie bündelt unsere ganze Aufmerksamkeit.

Natürlich brauche ich manchmal zwei, drei, sogar vier Stellungen, bis ich ein paar Gänge zurückschalten kann. Doch es ist ähnlich wie bei einem Glas Wasser, das wir auf der Tischplatte absetzen: Wenn wir lange genug warten und unseren eisernen Griff lockern, wird die Wasseroberfläche im Glas irgendwann still. Es ist ein Naturgesetz. Wenn wir die äussere Hülle lange genug still halten, werden wir auch innerlich langsamer und ruhiger. 

So ist Yin Yoga der ideale Gegenpol zu unserem hektischen Alltag. Gerade wenn wir uns manchmal auch nach acht Stunden Schlaf noch gerädert fühlen, kann Yin Yoga uns helfen abzuschalten und herunterzufahren. Das Ergebnis ist ein Gefühl von tiefer Regeneration. 

Photo credit: Clémentine Girardeau, October Industry

2. Selbstfürsorge

In eben diesem Alltag geben wir uns wenig Zeit und Raum, um uns selber zu spüren. Wir haben keine Kapazität, um nach innen zu hören und unsere Bedürfnisse wahrzunehmen. 

Wenn wir Selbstfürsorge hören, denken wir rasch an SPAs mit Panflötenmusik im Hintergrund. Selbstfürsorge ist im Grunde nichts anderes: eine Auszeit, die uns erlaubt, mit uns selbst Kontakt zu kommen. Nur wenn wir diesen Mut zur Pause finden, zeigt sich uns auch, wo wir in unserem Leben gerade stehen und wovon wir mehr oder weniger brauchen.

Natürlich bieten auch andere Formen der Meditation oder Achtsamkeit diese Möglichkeit zur Selbstfürsorge. Das Geniale an Yin Yoga ist, dass es unsere Batterien direkt auflädt. Laut der traditionell chinesischen Medizin (TCM) stimulieren die Dehnungen auch unsere Energiekanäle und fluten sie mit Lebenskraft. Ähnlich wie eine Akupressur-Session. Tatsächlich fühlen wir uns meist nach einer Yin Yoga-Praxis entspannt und doch mit frischer Tatkraft selbst-versorgt.

3. Resilienz durch Yin Yoga

Nicht selten nehmen wir eine Yin Yoga-Stellung ein und unser erster Gedanke ist: “Keine Chance, dass ich das vier Minuten durchhalte!” 

Meist hilft es, den Atem als Ressource zu nutzen. Wir atmen direkt in die schmerzende Körperstelle ein und versuchen, mit der Ausatmung ein bisschen zu entspannen. Wir lehnen uns in den Schmerz hinein anstatt uns dagegen zu verhärten. 

Oft haben wir dann die Möglichkeit zu beobachten, dass der Schmerz sich verändert, wandert oder sich sogar auflöst. Wenn die Klangschale das Ende der Stellung signalisiert, merken wir: “Ich habe es überstanden! Und zwar ohne daran zu zerbrechen.”

Die Erfahrung, dass wir scheinbar unüberwindbare Schwierigkeiten überleben, ist positiv und bestätigend. Vor allem auch, wenn wir uns nicht durchknorzen, sondern Ressourcen, wie beispielsweise den Atem, im richtigen Moment mobilisieren. 

Die Tatsache, dass es sich ja “nur” um eine Yogastellung handelt, soll das nicht untergraben. Welche Superkräfte haben wir, dass wir an Hindernissen wachsen und nicht zerbrechen!

Yin Yoga gefällig?

Wenn du Yin Yoga ausprobieren willst: Ich unterrichte einmal im Monat in Bern einen Yin Circle am Freitagabend und leite Yin Yoga Ausbildungen in verschiedenen Schweizer Städten. In allen meinen regulären Stunden fliesst Yin Yoga mit ein. 

Für's erste Eintauchen ist es hilfreich, wenn uns jemand bei der Hand nimmt und uns sanft anleitet. Du kannst aber auch für dich allein zu Hause mal ausprobieren. Die Stellung auf dem Bild, Butterfly, ist eine meiner liebsten. Sie spricht gleichzeitig alle Meridianlinien in den Beinen an und ist einfach in der Selbstanwendung.

Setze dich bequem auf den Boden und lege die Fusssohlen an einander, so dass die Knie zur Seite auffallen. Schiebe deine Fersen eher weit weg vom Becken, so dass die Beine eine längliche Rautenform bilden.

Photo credit: Clémentine Girardeau, October Industry

Kippe dein Becken nach vorne, dass du auf der Vorderkante der Sitzhöcker sitzt. Vielleicht zieht es hier schon, dann bleibst du einfach hier. Ansonsten kannst du weiter nach vorne falten. 

Photo credit: Clémentine Girardeau, October Industry

Wenn du im unteren Rücken ca. Eine 45° Neigung erreichst, kannst du oben in der Brustwirbelsäule rund werden.

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Wenn du den Kopf abstützt, entlastet das Nacken- und Schultermuskulatur.

Photo credit: Clémentine Girardeau, October Industry

Bleib vier Minuten, ausser der Schmerz wandelt sich von stumpf und grossflächig zu stechend und punktuell. Lege dich danach für ein paar Minuten auf den Rücken, so wie auf dem Bild. 

Photo credit: Clémentine Girardeau, October Industry

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