Yoga geht ans Eingemachte – wieso beim Atmen manchmal die Tränen fliessen
Yoga geht ans Eingemachte
Ich war gerade eine Woche mit Max Strom am Ortasee in Italien. Sein Credo Breathe to Heal hat Max zu internationaler Bekanntheit verholfen. Ich mag, dass er trotzdem ganz unaufgeregt ist. Er unterrichtet simple Yogaabfolgen, mit denen blutige Anfänger problemlos einsteigen können. Sein Fokus liegt bei der tiefen Zwerchfell-Atmung und bei dem Heilungsprozess, der dadurch in Gang kommt.
Nach einer kathartischen Atemübung am dritten Retreat-Tag flossen bei der ganzen Gruppe die Tränen. Beim Abendessen danach fragte mich meine Tischnachbarin, wie es denn komme, dass Yoga nicht nur körperliche sondern auch emotionale Spannungen löse.
"Nach einer kathartischen Atemübung flossen bei der ganzen Gruppe die Tränen."
Ich gestand, dass ich keine wissenschaftliche abgestützte These dazu habe. Dafür eine auf meine persönliche Erfahrung und Vorstelllungskraft basierte Theorie.
Das Zwerchfell, unser primärer Atemmuskel
Wenn wir unter Druck sind, Angst haben oder wütend sind, signalisiert unser Nervensystem dem Körper, dass eine Bedrohung herrscht. Um schnell reagieren zu können, baut unsere Muskulatur Spannung auf. Diese Reaktion im Körper ist eng mit unserer Wahrnehmung und emotionaler Färbung verknüpft.
Insbesondere wenn wir die Ursache, also die Emotion, nicht äussern oder verstoffwechseln, setzt sich diese Anspannung im physischen Körper fest. Sie wird eingemacht. Oder man könnte auch sagen, sie bildet einen festen Knoten in unserem Energiekörper.
Eine volle Zwerchfell-Atmung – eines der Hauptwerkzeuge im Yoga – massiert Muskelgewebe, Sehnen, Organe, Faszien und Nerven. Das Zwerchfell ist unser kuppelförmiger Hauptatemmuskel. Es ist an den Rippenbögen und an den Lendenwirbeln befestigt. Es bildet eine Trennwand zwischen Brustkorb mit Herz und Lunge und dem Bauchraum mit unseren Verdauungs- und Fortpflanzungsorganen.

Wenn das Zwerchfell sich anspannt, wird die Kuppel flach. Der Luftdruck im Brustraum sinkt, Luft kann in die Lunge einströmen – wir atmen ein. Entspannt sich das Zwerchfell, geht es zurück in die Kuppelform. Der Luftdruck in Brustraum steigt, die Lunge lässt Luft entweichen – wir atmen aus.
Der Atem bringt Bewegung rein
Wie gesagt, das Zwerchfell ist ein Muskel. Hast du schon mal vor Schreck, Nervosität oder Konzentration die Luft angehalten? Allein in unserem Hauptatemmuskel entsteht dann eine eingefrorene Spannung.
Vielleicht ist dir im Yoga auch schon aufgefallen, dass wir eine tiefe Atmung an ganz vielen Stellen im Körper spüren. Das rührt daher, dass unsere Faszien ein alles verbindendes Netz durch den Körper spannen. Darum spüren wir beispielsweise einen Zug bis runter in den Lendenbereich, wenn wir unser Kinn auf das Brustbein fallen lassen.
Wenn wir tief atmen, massiert die auf und ab pulsierende Bewegung des Zwerchfells Muskeln und Faszien im ganzen Körper. Wir lockern die fest gezurrten Knoten. Da wo Spannung fest sass, kommt wellenartige Bewegung rein.
Wir lockern die fest gezurrten Knoten. Da wo Spannung fest sass, kommt wellenartige Bewegung rein.
Ein leicht gelöster Knoten ist einfacher zu entwirren. Ich stelle mir gerne vor, dass da, wo die Emotion sich fest gesetzt hatte, ein Ventil wieder aufgeht. Die Ursprungsemotion zischt wie eine Dampfwolke heraus.
Wie gesagt, das ist keine besonders wissenschaftlich fundierte Erklärung. Doch habe ich unzählige Male erlebt, dass es funktioniert. Besonders wenn wir nicht im stillen Kämmerlein sondern in Gemeinschaft atmen und bewegen, geht das Druckventil wieder auf. Das ist kein einfacher Prozess. Dafür ein heilsamer.
Am nächsten Abend und nach einer weiteren kathartischen Übung sass ich wieder neben der gleichen Frau am Tisch. Sie wandte sich mir wieder zu und sagte: “Ich weiss nicht genau, was passiert ist. Aber mein Tinnitus ist weg.”
Atemübung zum Knoten lösen
Bei der erwähnten katharsischen Atemübung ist ohne Anwesenheit einer erfahrener Fachperson Vorsicht geboten. Aber milde Atemübungen reichen aus, um die Muskulatur und unseren Energiekörper zu ent-spannen.
Setze dich auf einen Yogablock, ein Meditationskissen oder einen Stuhl, so dass du mit aufrechter Wirbelsäule bequem sitzen kannst. Wenn du den Stuhl wählst – und das ist kein Zeichen von Schwäche – schau dass du beide Fusssohlen flach am Boden hast und eher auf der Vorderkante des Stuhls sitzt.

Platziere deine Hände auf den seitlichen Rippen, so dass die Finger ein zweites Rippenkorsett bilden. Ich mag den Daumen hinten rum und die vier Finger vorne. Schau, dass die Schultern trotzdem entspannt sein können. Vielleicht müssen dazu die Ellenboden etwas nach unten fallen.
Kannst du mit einer tiefen Einatmung mit den Rippen gegen die Hände schieben, vor allem auch nach hinten gegen die Daumen? Gib dir ein paar Atemzüge Zeit, um die Ausdehnung im Zwerchfell aufzubauen.
Wenn du eine tiefe Einatmung etabliert hast, widmen wir uns der Ausatmung. Zum Ausatmen öffne die Lippen leicht und atme mit einem gehauchten Haaaa-Klang aus. Als würdest du einen Spiegel anhauchen beim Putzen. Zieh das “Haaa” in die Länge. Die Einatmung bleibt tief, durch die Nase und mit der seitlichen und rückwärtigen Ausdehnung in die Rippen.
Wenn du sehr viel Anspannung verspürst, könntest du alternativ auch summend (melodisch “mmmmmh” singend) ausatmen.
Mach das während drei Minuten. Wenn du dich sicher fühlst, schliesse die Augen. Ansonsten lass den Blick vor dir auf der Erde ruhen. Lass danach die Hände auf die Oberschenkel sinken und atme entspannt und naiv durch die Nase, als wäre nichts gewesen.
Wie fühlst du dich danach? Teile gern mit mir in den Kommentaren.
Bücher zum Thema Emotionen, die sich im Körper festsetzen
- The Body Keeps the Score, Bessel van der Kolk (deutscher Titel: Das Trauma in dir)
- Waking the Tiger, Peter Levine (deutscher Titel: Trauma-Heilung)
Danke Elisa, das ist eine tolle Zusammenfassung! Du hast die Woche auf den Punkt gebracht.