Triggerwarnung: Bis auf das Header- und die Schlussbilder zeigen die Fotos in diesem Artikel schlanke, weisse, überbewegliche und weiblich gelesene Menschen ohne körperliche Einschränkungen. Ich habe das bewusst so gewählt, um die Sameness der Yogawelt abzubilden.
Ich war nie eine Drill-Yogalehrerin. Ich war immer der Meinung, es sei besser auf den Körper zu hören anstatt ihn anzuschreien und zu Höchstleistungen anzutreiben. Und trotzdem habe ich viele Jahre nach einem fixen Schema unterrichtet. Ich war überzeugt, dass eine Yogaklasse ohne Sonnengrüsse, Schweisstropfen und Peak Pose (eine schwierige Stellung als Höhepunkt) nicht vollständig sei.
Wenn ich eine Stunde besuchte, die anders aufgebaut war, sanfter und ohne diese fixe Struktur, konnte ich mich schnell echauffieren. Rasch stempelte ich die Lehrperson als inkompetent ab.
Eine "normale" Yogastunde ist schnell zu viel und viel zu schnell
Heute weiss ich: Manche Menschen können nicht so gut auf dem Boden sitzen. Andere können nicht so lange stehen. Andere wiederum kommen nicht mehr so gut hoch, wenn sie mal auf dem Boden sitzen. Ausserdem sind die fliessenden Abläufe in Yogaklassen, wie beispielsweise Sonnengrüsse, für die meisten Uneingeweihten zu schnell und auch zu viel.
Wer im Yoga landet und vor allem wer im Yoga bleibt, ist überdurchschnittlich beweglich und fit.
Wenn nicht, kommen die Leute nach der ersten Lektion nicht wieder, oder versuchen sich gar nicht erst auf der Matte. Seit einiger Zeit versuche ich, wieder eine andere Brille aufzusetzen. Wie viele andere war meine Wahrnehmung der Realität verzerrt. In Yogaklassen sieht man fast nur hypermobile Menschen. Und man gewinnt den Eindruck, das sei normal.
Ein heraufschauender Hund ist nur mit hypermobiler Lendenwirbelsäule machbar. Eine Grundstellung wie Krieger II geht nur mit Hüften, die überdurchschnittlich nach aussen (weg von der Körpermitte) rotieren können. Die Krähe erfordert sehr spezifische anatomische Voraussetzungen, wie Hypermobilität in der Hüfte und bestimmte Proportionen der Arme und Beine.



Aber ganz abgesehen von funktionaler/normaler und extremer Beweglichkeit, die skelettbedingt sind, gibt es auch die Alterserscheinungen und Folgen von Verletzungen. Für Menschen, die das Knie nicht mehr voll beugen können, ist es schwer auf dem Boden zu sitzen. Menschen mit Karpaltunnelsyndrom oder Arthrose können nicht im herabschauenden Hund sein. Menschen mit Neurodivergenzen sind in einem Raum voller Yogis überreizt und können nicht zuhören, geschweige denn entspannen.
Wie herkömmliches Yoga wirkt
Wieso sollte Yoga nur für junge, schlanke, bewegliche Menschen sein? Das will mir nicht in den Kopf.
Also habe ich mir in letzter Zeit viele Gedanken gemacht, wie man Yogalektionen umgestalten kann, damit sie auf unterschiedliche Bedürfnisse eingehen. Als Yogalehrerin bekommt man es schnell mit der Angst zu tun. Was mache ich, wenn ich mich nicht mehr auf das gewohnte Drehbuch verlassen kann?
Denn Menschen, die ins Yoga kommen, sind Gewohnheitstiere und haben auch gewisse Erwartungen. Die Entspannung, die wir im Yoga finden, hat auch etwas mit der Vorhersehbarkeit der Praxis selbst zu tun. Wenn wir uns unseren Kick aus Sonnengrüssen, Kriegern und Rückbeugen nicht holen können, dann glauben wir, dass uns etwas fehlt. Diese Yogastunde finden wir dann weniger gut, ohne genau zu wissen, woran das liegt.
Aber betrachten wir doch mal die biochemische Reaktion des Körpers auf schnelle Abfolgen und Umkehrstellungen, Rückbeugen, extreme Vorwärtsbeugen oder Armbalancen. Diese Elemente wirken stimulierend auf unser Nervensystem. Sie lösen aus, dass die Nebennieren Adrenalin ausschütten. Das ist per se nichts Schlechtes, wir brauchen nun mal einen Mini-Adrenalin-Schub, um vom Sitzen ins Stehen zu kommen. Aber Adrenalin wirkt nicht entspannend, im Gegenteil.



Was ist es also, was uns zu solchen Yoga-Modellen hinzieht? Meine Hypothese ist: Leistung, Adrenalin, Anstrengung und auf die Zähne beissen. Das, womit wir schon ganz gut vertraut sind.
Wenn wir mit einer Situation vertraut sind, verwechseln wir unsere Familiarität mit Sicherheit.
Auch wenn wir wissen, dass wir eine sanftere Herangehensweise brauchen, um unseren Alltagsstress auszugleichen, ist es trotzdem einfacher, den altbekannten Ansatz zu wählen. Wir kennen nicht viel anderes, als uns selber zu Höchstleistungen anzutreiben und keine Pausen einzulegen. Kein Wunder sind Yogastile, bei denen man einem Ideal entsprechen muss, so beliebt.
Yoga heilt alle Wunden
Es war vor allem der indische Lehrer B.K.S. Iyengar, der dieses Narrativ in die Welt gebracht und verfestigt hat. Als Kind war er kränklich und schwach, litt unter Tuberkulose, Typhus, Malaria und an Unterernährung.
Als er begann, Yoga zu praktizieren, wurde er stark und gesund. Als Yogalehrer und Autor verbreitete er diese Heilsbotschaft in der ganzen westlichen Welt.
So verfestigte sich der Eindruck, Yoga sei immer gesund, immer heilsam und sinnvoll.
Aber diese akrobatische Variante von Yoga, wie Iyengar und seine Zeitgenossen sie vermittelten und wie sie bis heute die meisten Yogaklassen prägt, ist nicht per se gesund. Sie erfordert einen extremen Bewegungsradius, den nur circa 20% der Weltbevölkerung hat. 80% der Menschen (give or take) sind nicht hypermobil.



Pattabhi Jois, ein weiterer Pionier und Begründer der Ashtanga Yoga-Methode, sagte, wenn man nur genug übt, kommt alles von selbst. Diese Vorstellung ist toxisch. Denn Skelett und angeborene Beweglichkeit sind genetisch bedingt und lassen sich nicht umkehren, egal wie viel man übt. Wer diese Maxime hört, wird sich obendrein auch unzulänglich fühlen, wenn gewisse Asanas auch nach Jahrzehnten nicht zugänglich sind.
Können wir Yoga neu denken?
Nichtsdestotrotz hat die Yogapraxis Komponenten, die allen Menschen guttun. Diese haben nichts mit bestimmten Stellungen zu tun, sondern mit der Tatsache, dass wir uns bewusst auf Körperwahrnehmungen und auf den Atemfluss konzentrieren. Dies hat eine regulierende Wirkung auf unser Nervensystem. Wenn das Nervensystem ruhig und ausgeglichen ist, funktionieren alle anderen Systeme im Körper, so wie Verdauung, Blutkreislauf, Hormone, Muskeln etc., harmonisch und störungsfrei.
Wahrscheinlich muss ich nicht sagen, dass man sich auch im Liegen oder auf einem Stuhl sitzend auf Körperempfindungen und Atem konzentrieren kann. Dazu brauchen wir sicher nicht einen Fuss hinter den Kopf zu klemmen. Und es ist trotzdem Yoga.
Ich persönlich plädiere dafür, dass wir Yoga neu denken.
Nirgends steht geschrieben, dass wir nicht kreativ werden dürfen und das Repertoire die klassischen Yogastellungen beinhalten muss. Wir könnten auch eine ganze Praxis auf dem Rücken liegend, im Stehen oder im Vierfüssler unterrichten.
Wir können die Essenz von Yoga, die stärkende und klärende Wirkung, mitnehmen. Wir können diese Achtsamkeit auf Körperübungen anwenden, die zugänglich für alle sind. Denn wenn die Essenz von Yoga und nicht die akrobatischen Stellungen im Zentrum stehen, dann ist es wirklich eine Praxis für alle.



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