Wenn wir intensiv mit dem Atem arbeiten, reduzieren wir nicht nur körperliche Anspannung. Manchmal öffnen sich auch die emotionalen Schleusen. Wie kommt es dazu? Der Versuch einer Einordnung.
Der Atem weicht unsere Rüstung auf
Im Yoga atmen wir mit zwei unterschiedlichen Motivationen. Manche Atemübungen beruhigen und regulieren das Nervensystem. Dafür ist Yoga bekannt. Die meiste Yogastile nutzen diese Atem-Strategie, weil sie sehr wirksam ist gegen Stress, im besten Fall sogar gegen Panikattacken und Angstzustände. Andere Atemtechniken sind leicht bis stark stimulierend. Dafür ist beispielsweise Kundalini-Yoga bekannt. In der Körperpsychotherapie spricht man von Ladungsatmung. Diese soll bewirken, dass sich die körperliche Anspannung leicht erhöht und sich aufgestaute Emotionen dadurch entladen können.
Vor einigen Jahren war ich bei einem Atem-Experten auf einem Wochen-Retreat. Am dritten Tag flossen bei einer solchen kathartischen Atem-Übung bei der ganzen Gruppe die Tränen. Beim Abendessen danach fragte mich meine Tischnachbarin, wie es denn komme, dass Atmen nicht nur körperliche sondern auch emotionale Spannungen löse.
Ich habe teils logische, teils intuitive Erklärungen.
Unser Nervensystem und die Atmung
Wenn wir Angst, Trauer oder Wut (oder ähnlich schwierige Emotionen) empfinden, versetzt unser Nervensystem alle anderen Systeme - Hormone, Muskeln, Verdauungssystem, Blutkreislauf - in Alarmbereitschaft. Um schnell reagieren zu können, steigt unser Blutdruck, unser Puls wird schneller, unser Atem flacher und unsere Muskulatur spannt sich an.
Unser Stammhirn kann nicht zwischen einer realen Bedrohung - früher der Säbelzahntiger - und einer subjektiven - wie beispielsweise die Angst vor engen Räumen und Menschenmengen - unterscheiden. Die Kampf-und-Flucht-Reaktion setzt genau gleich ein, sobald wir uns im echten Leben oder in Gedanken in die enge getrieben sehen.
Insbesondere wenn wir die Ursache, also die provozierte Emotion, nicht äussern, zeigen oder verdauen können, kann die Anspannung nach gebannter Gefahr nirgends hin. Sie setzt sich im physischen Körper fest.
Das Zwerchfell, der primäre Atemmuskel
Das Zwerchfell ist kuppelförmig und unser primärer Atemmuskel. Es ist an den Rippenbögen und an den Lendenwirbeln befestigt und bildet eine Trennwand zwischen Brustkorb mit Herz und Lunge und dem Bauchraum mit unseren Verdauungs- und Fortpflanzungsorganen.
Wenn das Zwerchfell sich anspannt, wird die Kuppel flach. Der Luftdruck im Brustraum sinkt, Luft kann in die Lunge einströmen – wir atmen ein. Entspannt sich das Zwerchfell, geht es zurück in die Kuppelform. Der Luftdruck in Brustraum steigt, die Lunge lässt Luft entweichen – wir atmen aus.
Da das Zwerchfell selbst ein Muskel ist, kann es auch Spannung horten.
Das heisst, bereits im Atemmuskel selbst sitzt viel eingefrorene Spannung.
Der Atem bringt Bewegung rein
Es ist kein Geheimnis, dass im Yoga die Atmung zentral ist. Für viele Menschen ist es ein Wieder-Erlernen der Bauchatmung - so wie wir als Baby von Anfang an atmen. Auch ich musste im Yoga mein Atemmuster umlernen. Nach Jahrzehnten im klassischen Ballett hatte ich mir eine oberflächliche Brustatmung angewöhnt, weil sich der Bauch nicht wölben durfte. Das heisst, ich nutzte die Brustmuskulatur zur Atmung, mein Zwerchfell war wie eingefroren.
Die Stressreaktion kann auch so entstehen. Wenn wir flach atmen, meint das Nervensystem, es herrsche eine Bedrohung. Und alle anderen Systeme - Muskeln, Hormone, Kreislauf - ziehen mit.
Als ich lernte, mein Zwerchfell wieder auf- und ab zu bewegen, löste sich im Körper ganz viel Spannung. Da Muskelspannung ist immer durch Emotionen verursacht. Wir haben Angst und ziehen die Schultern hoch. Wir wollen uns unsere Trauer oder Enttäuschung oder Wut nicht anmerken lassen und beissen auf die Zähne. Unsere Kiefermuskulatur wird zu Beton.
Vielleicht ist dir im Yoga auch schon aufgefallen, dass wir eine tiefe Atmung an ganz vielen Stellen im Körper spüren. Das rührt daher, dass unsere Faszien ein alles verbindendes Netz durch den Körper spannen. Darum spüren wir beispielsweise einen Zug bis runter in den Lendenbereich, wenn wir unser Kinn auf das Brustbein fallen lassen.
Durch das Betonen der Einatmung, erhöhen wir die Spannung und ermöglichen eine Entladung, wie bei einem Gewitter, das sich zusammenbraut.
Durch die Bewegung, die der Atem in verschiedene Regionen des Körpers rein bringt, löst sich körperliche und emotionale Anspannung.
Wieso ist Atmen so emotional?
Wenn wir anfangen, uns mit dem Atem zu beschäftigen, können wir uns plötzlich sehr dünnhäutig, aufgewühlt oder desorientiert fühlen. Es fühlt sich an, als würde diese therapeutische Massnahme alles nur noch schlimmer machen.
Das mag vielleicht düster klingen. Aber was dafür spricht, sich mit dem Atem zu beschäftigen und negative Emotionen zuzulassen ist, dass sich unsere Bandbreite in beide Richtungen erweitert. Wir fühlen allgemein wieder mehr: Auch die Freude, die Verbundenheit, die Zuneigung, die Dankbarkeit leben wir wieder intensiver.
Am nächsten Retreat-Abend und nach einer weiteren kathartischen Übung sass ich wieder neben der gleichen Frau am Tisch. Sie wandte sich zu mir und sagte: “Ich weiss nicht genau, was passiert ist. Aber mein Tinnitus ist weg.”
Atemübung zur Zwerchfell-Aktivierung
Bei der erwähnten katharsischen Atemübung ist ohne Anwesenheit einer erfahrener Fachperson Vorsicht geboten. Aber milde Atemübungen reichen aus, um die Muskulatur und unseren Energiekörper zu ent-spannen.
Setze dich auf einen Yogablock, ein Meditationskissen oder einen Stuhl, so dass du mit aufrechter Wirbelsäule bequem sitzen kannst. Wenn du den Stuhl wählst, setze beide Fusssohlen flach am Boden auf und schiebe das Becken zur Vorderkante der Sitzfläche.
Platziere deine Hände auf den seitlichen Rippen, da wo sie sich knochig anfühlen, und so dass die Finger ein zweites Rippenkorsett bilden. Du kannst die Daumen hinten am Brustkorb verhaken, die vier Finger vorne. Schau, dass die Schultern trotzdem entspannt sein können. Vielleicht müssen dazu die Ellenbogen etwas nach unten fallen.
Kannst du mit einer tiefen Einatmung mit den Rippen gegen die Hände schieben? Gib dir ein paar Atemzüge Zeit, um die Ausdehnung im Zwerchfell aufzubauen. Wenn die Rippen gegen die Hände schieben, muss das Zwerchfell aktiv werden.
Wenn du eine tiefe Einatmung etabliert hast, widmen wir uns der Ausatmung. Zum Ausatmen öffne die Lippen leicht und atme aus, als würdest du einen Spiegel oder deine Brille zum Putzen anhauchen. Schau ob du das Hauchen mit jeder Ausatmung etwas mehr in die Länge ziehen kannst.
Wenn du sehr viel Anspannung verspürst, könntest du alternativ auch summend (melodisch “mmmmmh”) ausatmen.
Mach das während drei Minuten. Wenn du dich sicher fühlst, schliesse die Augen. Ansonsten lass den Blick vor dir auf der Erde ruhen. Lass danach die Hände auf die Oberschenkel sinken und atme ein und aus. Spüre einfach den Lufthauch an den Nasenflügeln.
Wie fühlst du dich danach? Teile gern mit mir in den Kommentaren.
Bücher zum Thema Emotionen, die sich im Körper festsetzen
- Bessel van der Kolk, The Body Keeps the Score (deutscher Titel: Das Trauma in dir)
- Peter Levine, Waking the Tiger (weitere Bücher in deutscher Sprache)
- Max Strom, A Life Worth Breathing
Danke Elisa, das ist eine tolle Zusammenfassung! Du hast die Woche auf den Punkt gebracht.